Jonathan Danko Kielkowski
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Fotografie, Dokumentation

Welcome to Slab City

Eine Reise nach Slab City – zwischen Schrott, Feuer und Sternenhimmel. Begegnungen mit Aussteigern, Kunst im Staub: Eindrücke aus einem Ort zwischen Utopie und Dystopie.

Datum

2016

Ort

Slab City, California, USA

Slab City – Der letzte freie Ort Amerikas?

7000 Kilometer, zwei Monate und sechs US-Bundesstaaten. Anfang 2016 reiste ich entlang der amerikanischen Westküste – von Norden nach Süden. Schon im Vorfeld hatten wir viel über Slab City gelesen. Ein Ort jenseits von Besitz, Gesetzen und Normen, angeblich frei von Zwängen, Regeln, Eigentum. Der letzte freie Ort Amerikas – so zumindest der Mythos. Und genau dieser Mythos hatte uns neugierig gemacht. Ein Ort der Freiheit, der Kunst, des bewussten Lebens jenseits des Systems.

Wir erreichten die Gegend am späten Nachmittag. Die Landschaft war trocken, staubig, wie ausgestorben. Alles wirkte wie aus der Zeit gefallen: kaputte Infrastruktur, rostige Schilder, leere Straßen. Die Sonne hing tief, das Licht war flach, als wäre die Welt auf Pause gestellt. Niland wirkte wie der letzte Vorposten der Zivilisation, bevor das Unbekannte begann. Eine staubige Kreuzung am Rande der Welt.

Viel war nicht übrig geblieben. Ein kleiner Laden, ein alter Getränkeautomat in der Sonne, ein leerer Parkplatz. Und ein Motel, das aussah, als wäre es seit Jahrzehnten in keinem Film mehr gebucht worden.

Das Gebäude erinnerte an die typischen Wüstenmotel-Kulissen aus amerikanischen Roadmovies: abgeplatzte Farbe, Neonbuchstaben, die nur halb leuchten, ein Snackautomat in der Ecke, der nach rostigem Kleingeld klang. Die Matratzen weich wie nasse Pappe, die Klimaanlage lärmte mehr als sie kühlte, im Bad bewegte sich etwas, das sich nicht vorstellen wollte.

Wir checkten ein. Mehr aus Notwendigkeit als aus Überzeugung. Ankommen. Luft holen. Überlegen, wie wir weiter vorgehen. Es kursierten viele Gerüchte: Kriminalität, Drogen, Gewalt. Wir wollten es vorsichtig angehen. Drei blasse Jungs aus Deutschland, die sich erstmal einen Überblick verschaffen wollten.

Die Gegend um Slab City gehört zu den trostlosesten, die ich je gesehen habe. Der nahegelegene Salton Sea, einst ein Touristenmagnet mit Strandpromenaden, Yachthäfen und Ferienanlagen, ist heute ein sterbender, ökologisch gekippter Salzsee. Die Fische sind verendet, das Wasser stinkt nach Schwefel, der Strand besteht aus pulverisierten Fischkadavern. In Bombay Beach, früher ein glamouröses Urlaubsziel, stehen heute verrostete Wohnwagen und halb eingestürzte Häuser. Es wirkt wie ein Museum des Verfalls. Ein Ort, der sich selbst aufgegeben hat.

Am nächsten Morgen brach ich allein auf. Ich wollte den Sonnenaufgang sehen, etwas Abstand vom schalen Geruch des Motelzimmers gewinnen. Die anderen schliefen noch. Ich lief zu Fuß durch Niland. Auch bei Tageslicht wirkte alles grau und verlassen. Leerstehende Gebäude, zugenagelte Fenster, überwachsene Vorgärten. Eine Stadt, die einmal versuchte zu leben und dann vergessen wurde. Es war still, unheimlich still. Kein guter Ort zum Bleiben. Aber der richtige, um Slab City zu suchen.

Schon bald tauchten die ersten Zeichen auf: verlassene Strukturen, alte Silos, bemalte Container, erste Camper in der Ferne. Snowbirds, wie man sie nennt. Und plötzlich war es da, das Gefühl, dem ich hinterhergereist war: Neugier. Erwartung. Eine Ahnung von etwas, das anders war.

Slab City liegt auf dem Gelände der ehemaligen US-Marinebasis Camp Dunlap. Der Name bezieht sich auf die Überreste der Betonfundamente („Slabs“), auf denen heute improvisierte Behausungen, Wohnmobile, Busse und Schrottkonstruktionen stehen. Es gibt keine Miete, keine Stromversorgung, kein Wasser, keine Müllabfuhr. Die einen kommen im Winter, um dem Schnee zu entfliehen – die sogenannten Snowbirds. Die anderen bleiben das ganze Jahr über. Freiwillig oder weil sie nicht können. Manche aus Überzeugung, andere aus Not. Zwischen diesen Lagern verlaufen oft unsichtbare Gräben.

Am Ortseingang steht Salvation Mountain – ein mit Farbe übergossener Lehmhügel, verstärkt mit Strohballen, gebaut vom Künstler Leonard Knight. Es ist eine Mischung aus Kunstwerk, Predigt und Monument. Biblische Botschaften auf grellen Farben, eingebettet in die staubige Wüste. Es war der erste Moment auf dieser Reise, der dem Bild entsprach, das ich im Kopf hatte: bunt, frei, verrückt. Ein Ort, an dem etwas passiert. Oder zumindest einmal passiert ist. Denn der Mann, der all das erschaffen hat, Leonard Knight, war zu diesem Zeitpunkt schon verstorben. Knight hatte sich seit den 1980er-Jahren hier niedergelassen, ursprünglich mit der Idee, einen Heißluftballon als Botschaftsträger zu bauen. Als das scheiterte, begann er, aus Lehm, Farbe und Schrottteilen diesen Berg zu errichten – über Jahrzehnte, fast wie ein endloses Ritual. Für viele war er eine Art Eremit, für andere ein Prophet oder ein Sonderling. Bis zu seinem Tod 2014 lebte er in einem alten Lastwagen direkt neben dem Berg und arbeitete Tag für Tag an seiner Vision. Salvation Mountain ist seither ein Denkmal, das ohne ihn weiterbesteht, aber unweigerlich mit seiner Geschichte verbunden bleibt.

Doch je länger man bleibt, desto mehr löst sich diese Farbigkeit wieder auf. Hinter den kräftigen Tönen von Salvation Mountain beginnt etwas anderes. Erste Müllhalden tauchen auf, verlassene Autos, ausgebrannte Camper. Überall liegen Reste – Fragmente eines Lebens, das hier einmal geführt wurde und längst aufgegeben scheint. Eine Landschaft der Rückzüge, der Überreste.

Und dann: in der Ferne eine Rauchsäule. Ein Zeichen, dass hier doch noch etwas geschieht. Sie zieht mich an.

Auf dem brennenden Gelände begegnete ich T.D.. Er trug einen Pullover, eine kurze Hose, und stand mit einem Rechen zwischen den rauchenden Überresten. Sein Zirkus war in der Nacht zuvor abgebrannt. Brandstiftung, meinte er. Eine rivalisierende Gruppe. T.D. war aufgebracht, aber freundlich. Und sehr mitteilsam.

Er erzählte mir, dass er früher tief in der Drogenszene steckte. Zwei anderere Dealer hatten ihn betrogen. Er hatte geplant, sie umzubringen. Die Waffe war bereits gekauft. Doch im letzten Moment, sagte er, habe Gott ihn zurückgehalten. Für ihn war das der Wendepunkt. Heute sieht er sich als Reinkarnation von Jesus und leitet seine eigene religiöse Bewegung, in deren Zentrum Nächstenliebe, Vergebung und spirituelle Erleuchtung stehen. Ihr Symbol: eine Mischung aus Lotus- und Hanfblatt. Er sprach viel über Liebe, Menschlichkeit, Überwindung von Hass. Seine Stimme war ruhig, sein Blick sanft. In diesem Moment schien er wirklich zu glauben, was er sagte.

Und dann – fast beiläufig, aus dem Nichts – schaute er mich an und sagte: „Denk mal drüber nach. Wenn Gott mich davon abgehalten hat, diese Dealer zu töten, diese Verbrecher, böse Menschen– warum hat er Hitler nicht daran gehindert, Millionen Juden zu ermorden?“

Ich war überrumpelt. Was dann kam, war eine Hetzrede, voller Hass und Antisemitismus. Laut, wütend, wirr. Ein Moment, der mich verstörte und gleichzeitig für vieles stand, was mir an diesem Ort begegnete: die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Idee und Abgrund.

T.D. sprach auch von anderen Konflikten. Von verfeindeten Gruppen, zerstrittenen Glaubensgemeinschaften, Drogenproblemen. Von East Jesus und West Satan, zwei Lager, die früher zusammengehörten und sich dann über Kommerzialisierung zerstritten. West Jesus wurde zu West Satan, aus Protest gegen das, was man als Ausverkauf empfand. Es war eine Welt voller Brüche, voller Widersprüche.

Ich machte ein Porträt von ihm. Sein Gesicht, seine Geschichte, seine Doppelmoral – all das blieb mir.

Und doch, zwischen all den Rückzügen und Kämpfen gab es auch andere Bilder. Orte, die von einer wilden, fast anarchischen Kreativität erzählten. Eine kleine Bibliothek, sorgfältig gepflegt, mitten im Staub – ein stiller Kontrast zum Chaos ringsum.

East Jesus: ein Gelände aus Schrott und Fantasie, voller Installationen und Skulpturen, wild gebaut, voller Details. Ein Ort, an dem man sich verlieren konnte, weil hinter jeder Ecke etwas Neues wartete.

The Range: eine Bühne, zusammengefügt aus alten Bussen und Holz, roh und imposant zugleich. Tagsüber leer und fast gespenstisch, am Abend aber das Herz von Slab City. Hier traf sich das ganze Dorf, es gab Open Mic, kleine Bands, Feuerstellen. Ein Konzertplatz unter freiem Himmel, wo plötzlich ein Gefühl von Gemeinschaft entstand. Zum ersten Mal wirkte Slab City nicht nur zersplittert und widersprüchlich, sondern auch verbunden – für einen Moment voller Musik, Lachen und Leben.

In Slab City schlugen wir unser Camp am ehemaligen Militärpool auf – heute ein Skatepark, einst Teil der Schwimmanlagen von Camp Dunlap. Dort lebte BarkBark, ein Mann, der seit rund 25 Jahren in einem alten Schulbus hauste, ein Aussteiger, der der großen Stadt entflohen war. Er wollte keine Fotos, fand es aber cool, dass wir ihn gefragt hatten, ob wir dort pennen dürfen, und erlaubte uns, unser Camp am Pool aufzuschlagen. Nicht ohne Warnung: Wenn wir lautes Geschrei oder merkwürdiges Verhalten hören würden, läge das am Crystal Meth.

Der Pool selbst war völlig zugemüllt. Also begannen wir, aufzuräumen. Wir stopften den Abfall in zwei verrostete Autowracks, die mitten im Becken standen, und verwandelten das Chaos in Vorbereitung für ein Ritual. Am Abend entzündeten wir die Wagen – ein Feuer, das Reinigung und Zerstörung zugleich war.

Und mit den Flammen kam noch ein anderer Moment hinzu. Ganz am Anfang der Reise hatten wir in Portland legales Gras gekauft – damals noch ein Novum in den USA und in Deutschland undenkbar. Seitdem trugen wir es mit uns herum, quer durch die Bundesstaaten, teils auch durch solche, in denen es streng verboten war. Die ganze Zeit über warteten wir auf den richtigen Moment, auf die richtige Situation.

Jetzt war sie da. In dieser irren Kulisse zwischen Schrottfeuer und Sternenhimmel fühlte es sich plötzlich richtig an. Wir ließen Light My Fire von den Doors laufen, lehnten uns zurück, blickten in die Flammen, atmeten durch. Für einen kurzen Moment war alles genau richtig. Irgendwo zwischen Wahnsinn und Frieden.

Slab City war kein romantischer Zufluchtsort für Freigeister, sondern ein zerrissener Ort voller Widersprüche – zwischen Utopie und Dystopie, zwischen genialem Chaos und abstoßendem Verfall. Und doch war der Ort vielleicht gerade deshalb eine der eindrücklichsten Stationen der Reise.

Am nächsten Tag fuhren wir weiter – staubig, müde, still und irgendwie ein bisschen klarer im Kopf.

Falls dich weitere Geschichten von meinem USA-Roadtrip interessieren, hier eine kleine Übersicht bisher veröffentlichter Beiträge:

Wenn du mehr über die Geschichte und die besonderen Orte von Slab City erfahren möchtest, findest du hier eine kleine Sammlung weiterführender Artikel und Hintergrundinformationen:

Wikipedia – Slab City
Überblick über Geschichte, Struktur und heutige Situation der „stadtlosen“ Wüstensiedlung in Kalifornien.

Wikipedia – Salvation Mountain
Hintergrund zu Leonard Knight und seinem farbigen Monument am Rand von Slab City.

East Jesus – Offizielle Seite
Kunst- und Lebensprojekt in Slab City, das seit 2007 kontinuierlich wächst.

Spaces Archives – East Jesus & The Range
Dokumentation zu den beiden bekanntesten Kulturorten vor Ort.

Document Journal – Slab City, the artistic outpost where outsiders find home
Reportage über Kunst, Subkultur und Alltag in Slab City.

Antoine Aboudiwan – Free Music Under the Stars
Artikel über The Range, die Open-Air-Bühne, die von William „Builder Bill“ Ammon gegründet wurde.

California Through My Lens – East Jesus Art Community
Erfahrungsbericht mit Fotos und Eindrücken vom East-Jesus-Gelände.

HowStuffWorks – Slab City
Historischer Überblick über die Entstehung von Slab City auf dem Gelände der ehemaligen Militärbasis Camp Dunlap.